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Kölner Stadt-Anzeiger

Klimaschutz mit Atomkraft

20.20.2024 • von Matthias Koch (RND)


Amerikanische Datenkonzerne investieren wie noch nie in die Atomkraft. Google hat diese Woche gleich sieben Reaktoren neuen Typs auf einen Streich bestellt. Treiber des Trends ist der kolossale Stromverbrauch für Künstliche Intelligenz. Auch Microsoft und Amazon setzen massiv auf Kernkraft - und schieben weltweit eine neue Debatte an.

Google-Firmensitz
Kernkraft soll helfen, den wachsenden Strombedarf zu decken: Der Google-Firmensitz in Mountain View, Kalifornieren

Welchen Energiequellen gehört die Zukunft? In den USA gibt jetzt eine neue Generation von Managern eine neue Antwort: Wind plus Sonne plus Kernenergie. Hauptsache, niemand bläst mehr massenhaft Kohlendioxid in die Luft.

Man nehme so viel erneuerbare Energien wie möglich, füge dann aber noch so viel nukleare Anteile wie nötig hinzu, um all jene zu beliefern, die eine schwankungsfreie 24/7-Versorgung brauchen, auch in Phasen von Dunkelheit und langen Flauten: Dieses Rezept hört sich innovativ an und unideologisch. Und exakt so treten die Befürworter der neuen Linie auch auf.

Der gute Geist von Google

Michael Terrell zum Beispiel, Bereichsleiter für Energie und Klima beim Internetriesen Google, beschreibt sich selbst als trees nerd , als Kenner und Liebhaber von Bäumen. Seinen Konzern will er bis 2030 klimaneutral machen.

Der Yale-Absolvent gehört zu Amerikas globalen Überfliegern in Sachen Klimaschutz. Mal saß er in einem vom Weißen Haus eingesetzten Umweltrat, mal beriet er Wirtschaftskommissionen der Vereinten Nationen. In Videoschalten tritt Terrell im kariertem Hemd vor die Kamera, im Hintergrund eine kalifornische Solarfarm. Die Weltzentrale seiner Firma grenzt an den Shoreline Park in Mountain View, ein Feuchtbiotop, das bedrohten Vogelarten Schutz bietet.

Dieser schönen neuen Welt will Terrell jetzt sieben kleine Atomkraftwerke neuen Typs hinzufügen. Der erste Reaktor soll ab dem Jahr 2030 laufen.

Es gehe, schrieb Terrell diese Woche in einer Mitteilung an die Medien, nicht allein um den Eigenbedarf seines Konzerns, sondern auch darum, „überall in den USA den Übergang zu sauberer Technologie zu beschleunigen“. Ein mit dem nuklearen Start-up Kairos Power unterzeichneter Vertrag werde „rund um die Uhr verfügbaren CO2 -freien Strom“ garantieren. Man fördere jetzt neue Technologien, an denen nicht nur Google interessiert sei, sondern die ganze Welt.

Der NVIDIA-Chef warnt weltweit

Tatsächlich dürfte die Google-Entscheidung auch außerhalb der USA die energiepolitischen Debatten durcheinanderwirbeln. Denn es geht nicht nur um Google.

Jensen Huang zum Beispiel, Chef des Chipherstellers Nvidia, des neuerdings wertvollsten Unternehmens der USA, warnt seine weltweiten Gesprächspartner schon seit Langem, ohne Kernkraft werde man nicht ins KI-Zeitalter starten können. Ebenso sieht es Amazon-Gründer Jeff Bezos. Sein Unternehmen will sich ebenfalls Kleinreaktoren liefern lassen, von Dominion Energy aus Virginia.

Zur feierlichen Verkündung der Amazon-Entscheidung in dieser Woche erschien auch US-Energieministerin Jennifer Granholm und verkündete fröhlich, dies sei ein wunderbares neues Beispiel für die „BYOP-Politik“ der amerikanischen Regierung. Wer Datenzentren betreiben wolle, solle die nötige Energieversorgung bitte gleich selbst mitbringen: „Bring Your Own Power.“

Zwei verdrängte Megatrends

Der Strombedarf für Datenverarbeitung ist lange Zeit heillos unterschätzt worden. Jedes KI-gestützte Hin und Her im Netz, etwa bei ChatGPT, frisst schon jetzt ein Vielfaches des Stroms im Vergleich zu einer schlichten Google-Suche. Meta, Dachkonzern von Facebook, registrierte in seinen Rechenzentren im Jahr 2023 einen Stromverbrauch von 14 975 435 Megawattstunden (MWh) – 34 Prozent mehr als im Vorjahr. Und das ist erst der Anfang. Bis 2026 könnte nach manchen Schätzungen der Stromverbrauch der Datenzentren weltweit steiler hochgehen denn je, in Richtung von 1000 Terawattstunden. Das entspräche dann dem kompletten Bedarf der Industrienation Japan.

Eine Renaissance der Atomkraft, weltweit am heftigsten von deutschen Kernkraftgegnern für unmöglich erklärt und bis heute geleugnet, ist längst im Gang. Weltweit gibt es immer mehr Anbieter, die für ihre Kleinreaktoren werben, von Nuscale Power im US-Staat Oregon bis zum britischen Techkonzern Rolls Royce. Ihre Produkte, die auf Schwerlasttransporte passen würden, sollen Kosten senken und die Planbarkeit erhöhen. Zugleich aber drehen sich auch über den Baustellen großer standortgebundener Reaktoren die Kräne. In China sind nach aktuellen Angaben von Regierungsmedien derzeit 46 Kernkraftwerke im Bau. Auf Platz zwei und drei der weltweiten Statistiken liegen Russland (14) und Indien (12). In der EU planen um Deutschland herum sechs Staaten neue Atomkraftwerke: Polen (3), Schweden (2), Rumänien (2), Bulgarien (2), Ungarn (2) und Tschechien (1). Italien könnte im Jahr 2025 hinzukommen.

Der US-Datenkonzern Microsoft sieht seinen Energiebedarf unterdessen so extrem wachsen, dass er auch hässliche Assoziationen in Kauf nimmt. Der Konzern will sich Atomstrom vom Gelände des einstigen Unglücksreaktors Three Mile Island bei Harrisburg, Pennsylvania, liefern lassen. Dort kam es 1979 zu einer partiellen Kernschmelze, dem größten Atomunfall der US-Geschichte. Weil rund 140 000 Menschen vorübergehend ihre Häuser verlassen mussten, brannte sich der Vorfall tief ein ins Bewusstsein der Amerikaner.

Die Firma Constellation Energy soll jetzt einen damals nicht betroffenen Kraftwerksblock bis zum Jahr 2028 wieder in Betrieb nehmen. Microsoft unterzeichnete einen Vertrag über 20 Jahre und gab dem Lieferanten auf, den gesamten in dieser Zeit produzierten Strom ausnahmslos bei Microsoft abzuliefern. Auch dies markiert, wie dramatisch der Bedarf eingeschätzt wird.

Jeder ahnt, dass das Unternehmen für den Three-Mile-Island- Deal keinen Schönheitspreis bekommt. Der Energiechef des Konzerns, Bobby Hollis, pocht jedoch darauf, dass auch diese Lösung das Klima schütze. Tatsächlich pusten seit geraumer Zeit amerikanische Kohlekraftwerke wegen des erhöhten Energiebedarfs von Datencentern mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre.

Wenn an solchen Stellen abgewogen werden muss, entscheiden sich amerikanische Klimaschützer im Zweifel für die Kernkraft. Unvergessen sind die Aktionen von Ökoaktivisten zur „Rettung von Diablo Canyon“, einem in die Jahre gekommenen Uraltreaktor an der kalifornischen Küste, den die Behörden bereits stilllegen wollten.

Der Hoffnungsträger: Thorium

Gemessen an Microsofts Notbehelf mit Three Mile Island wirkt der von Google eingeschlagene Weg weitaus eleganter. Das Besondere an der Google-Entscheidung liegt in den Reaktoren neuen Typs, die der Internetriese bestellt hat. Thorium-Reaktoren sollen es sein, mit einem sogenannten passiv sicheren Kühlsystem aus geschmolzenem Salz. Google verspricht sich davon mehr technische Sicherheit und mehr politische Akzeptanz.

Niedriger Druck und die Kühlung durch Salz machen bei Thorium-Reaktoren die bislang übliche Wasserkühlung verzichtbar. Vor allem aber sollen sie den Betreibern das Risiko des Durchbrennens ersparen. Flüssigsalzreaktoren, sagen ihre Befürworter, würden im Fall des Falles ohne Einwirkung von außen alle Prozesse nach und nach zum Stehen bringen, schon aus physikalischen Gründen.

Vorteile bietet Thorium auch bei Kosten und Verfügbarkeit. Anders als Uran ist Thorium nicht knapp. Es gibt reichliche Vorräte in den USA, in Brasilien, in Europa, in Australien und nicht zuletzt auch in China, wo in diesem Sommer bereits ein Forschungsreaktor auf Flüssigsalzbasis in Betrieb genommen wurde. Die Regierung in Peking hat angeblich ausgerechnet, dass allein die Thorium-Vorräte im eigenen Land ausreichen, um eine Stromversorgung für die nächsten 20 000 Jahre sicherzustellen.

Dass Thorium nicht schon früher in großem Stil eingesetzt wurde, hängt damit zusammen, dass einige technische Probleme nicht beherrscht werden konnten. Dabei ging es unter anderem um die Korrosion von Behältern durch das Salz. Ingenieure rund um den Globus, etwa bei der dänischen Firma Copenhagen Atomics, zeigen sich inzwischen zuversichtlich, dass dieser Punkt beherrschbar ist.

Firmengründer Thomas Pedersen ist nicht nur ein Techoptimist. Er glaubt auch an positive gesellschaftspolitische Effekte der Thorium-Technologie. Mit preiswerter Energie könne man etwas tun gegen die wachsende Sorge vieler Menschen um ihren Wohlstand. Auf der Rückseite der T-Shirts, die seine Mitarbeiter tragen, steht ein Slogan: „Energie ist Wohlstand.“

Zur Grundlagenforschung rund um die Thorium-Technologie hatten in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten auch deutsche Forscher und Firmen beigetragen. Im Jahr 2020 kam jedoch ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zu einer eher skeptischen Einschätzung.
Und im September 2023 verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz im Deutschlandfunk: „Die Kernkraft ist zu Ende. Sie wird in Deutschland nicht mehr eingesetzt. Das Thema Kernkraft ist in Deutschland ein totes Pferd.“