Der Tag, als die Flut kam:

Katastrophe im Ahrtal, der Eifel und Erftstadt

Von Ramona Hammes und Tom Steinicke, KStA • 29 Dezember 2021


169 Tage ist der 14. Juli nun her. Der Tag, an dem das Wasser kommt. Der Tag, als die Katastrophe über so viele Orte hereinbricht. Der Tag, der Existenzen zerstört, Arbeit zunichtemacht. Der Tag, an dem 182 Menschen in NRW und Rheinland-Pfalz sterben. An dem Tausende ihre Häuser und Heimat verlieren. Für sie ist dieser Tag nicht weit weg, die Flutkatastrophe und ihre Folgen sind für sie seit 169 Tagen der Alltag.

Einen Tag, bevor die Katastrophe die Eifel und das Ahrtal erreicht, setzt der Starkregen den Großraum Hagen unter Wasser. Brücken und Straßen werden unterspült, Hänge rutschen ab, einige Ortsteile werden abgeschnitten. Um 19.02 Uhr am 14. Juli wird in Hagen der Notstand ausgerufen. Auch im Raum Düsseldorf und Aachen richtet das Wasser bereits Schäden in Millionenhöhe an.

Das Ahrtal wird verwüstet

Der Pegel der Ahr steigt und steigt. Am frühen Abend werden Campingplätze und das 700-Einwohner-Dorf Schuld nahe der nordrhein-westfälischen Landesgrenze verwüstet. Dennoch ahnen die Menschen flussabwärts nicht, was auf sie zukommt. Erst gegen 22 Uhr löst der Kreis Ahrweiler den Katastrophenalarm aus und ruft zur Teil-Evakuierung für Bewohner 50 Meter rechts und links der Ahr auf. Das reicht bei Weitem nicht aus. Wie Satellitenbilder später zeigen, werden sogar Häuser in 250 Metern Entfernung überflutet.

Die Hochwasserzentrale schätzt, dass die Ahr im Laufe der Nacht auf mehr als sieben Meter angestiegen ist. Genau lässt sich das nicht mehr bestimmen. Um 20.45 Uhr hat der Pegel in Altenahr 5,75 Meter angezeigt, es sind die letzten Daten. Die Pegellatte ist irgendwann zusammen mit dem kleinen Häuschen, an dem sie angebracht war, von den Wassermassen weggeschwemmt worden.

Jürgen Pföhler, der Landrat des Kreises Ahrweiler, steht nach der Katastrophe im Zentrum massiver Kritik: Er habe die Lage falsch eingeschätzt, zu spät gewarnt, keine Maßnahmen ergriffen. Kurz nach der Katastrophe meldet Pföhler sich krank, Mitte August gibt er bekannt, sein Amt nicht mehr auszuüben, Ende Oktober wird er in den Ruhestand versetzt.

Bangen um die Steinbachtalsperre

Seit dem Morgen des 14. Juli sind im Kreis Euskirchen die Feuerwehren im Dauereinsatz. Einsätze, wie sie bei vielen Starkregenereignissen in der Vergangenheit zu bewältigen waren. Auch hier ahnt niemand, was auf die Menschen zukommen wird. Bis zum Abend, als sich die Lage in den Tallagen aller elf Städte und Gemeinden dramatisch zuspitzt. Kleine Bäche, deren Namen oft nur die Anwohner kennen, und namenlose Rinnsale verwandeln sich in reißende Ströme und richten immensen Schäden an.

Die Retter haben keine Chance mehr, die von den Wassermassen eingeschlossenen Menschen zu erreichen. Es dauert bis zum Morgengrauen, bis überörtliche DLRG-Kräfte das Katastrophengebiet erreichen und mit Booten helfen können. Die schlimmsten Befürchtungen, dass hunderte Menschen in den Fluten zu Tode gekommen sein könnten, bestätigen sich nicht. Doch sterben alleine im Kreis Euskirchen in der Flutnacht 26 Menschen.

Allerorten wird im Morgengrauen das Ausmaß der Schäden sichtbar, um 4.06 Uhr wird der Katastrophenfall ausgerufen. Die Zerstörungen gehen in die Milliarden, mehr als 10.000 Gebäude sind beschädigt oder zerstört. Die Infrastruktur ist massiv angeschlagen. In den betroffenen Orten gibt es keinen Strom, kein Trinkwasser, kein Telefon. Straßen und Autobahnen sind unpassierbar, Bahnlinien zerstört. Die Menschen kämpfen sich durch Schutt, Trümmer und Schlamm aus ihren Häusern ins Freie. Fassungslosigkeit, Schock und Trauer beherrschen die ersten Stunden, bevor es ans große Aufräumen geht.

An der Steinbachtalsperre bei Euskirchen beginnt das große Zittern. Um 20 Uhr ist es am Vorabend zum Kronenstau gekommen, die Talsperre ist übergelaufen. 120.000 Liter Wasser pro Sekunde haben sich bis 23 Uhr ihren Weg gebahnt. 4800 Menschen sind in den angrenzenden Orten evakuiert worden. Der Damm droht zu brechen, es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Feuerwehr, THW und Bundeswehr sind im Einsatz. Bis zu 450.000 Liter Wasser pro Minute werden aus der Talsperre gepumpt, um den Damm zu stabilisieren. Tiefbauunternehmer Hubert Schilles riskiert sein Leben, als er den mit Erde und Geröll zugeschwemmten Abfluss freibaggert. Die Mission gelingt: Am 19. Juli ist die Talsperre sicher, ein Dammbruch nicht mehr zu befürchten.

Bild aus Blessem geht um die Welt

Als im Kreis Euskirchen und im Ahrtal die Schäden der Flutkatastrophe am 15. Juli bei Tagesanbruch sichtbar werden, steht Erftstadt und Blessem das Schlimmste noch bevor. Gegen 4 Uhr läuft der Horcheimer Damm bei Vernich im Kreis Euskirchen über. Zwei Stunden später steigt das Wasser in Erftstadt sprunghaft. Häuser versinken in der Erft. Um 8.50 Uhr löst die Feuerwehr – für viele Menschen viel zu spät – Großalarm aus.

Dass bei dieser Hochwasserwelle in Erftstadt niemand ums Leben gekommen ist, grenzt an ein Wunder. Auf der B265 gehen mehr als 50 Lastwagen und Autos in der Flut unter. Tagelang ist unklar, ob es alle Menschen rechtzeitig aus den Fahrzeugen geschafft hatten. Sie alle sind ahnungslos in die Flutwelle gefahren.

In Blessem geschieht das Unvorstellbare erst am 16. Juli. Wassermassen laufen in eine Kiesgrube. Die gibt nach. Drei Häuser an der Abbruchkante stürzen ein. Fünf weitere werden so schwer beschädigt, dass sie abgerissen werden müssen. Das Luftbild der Kiesgrube samt Abbruchkante geht um die Welt.

Die Menschen nicht alleine lassen

Eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft erreicht die betroffenen Regionen. Es ist ein beeindruckendes Zeichen bereits wenige Tage nach der Katastrophe: Die Menschen werden nicht alleine gelassen. Aus der Region und dem gesamten Bundesgebiet kommen Helfer: Die einen mit leichtem Gerät, mit Schaufeln und Eimern. Sie ziehen von Haus zu Haus, räumen Zimmer um Zimmer aus, Keller um Keller, schippen kubikmeterweise den schweren, stinkenden, oft kontaminierten Schlamm, stehen den Betroffenen bei.

Die anderen kommen mit schwerem Gerät, mit Baggern, Traktoren und Lkw, um den Kampf mit den gigantischen Müllbergen aufzunehmen – alleine im Kreis Euskirchen sind mehr als 100.000 Tonnen Flut-Sperrmüll aus den Orten zu schaffen und zu entsorgen.

Millionen Euro werden gespendet, in unzähligen Orten Spendenlager installiert mit allem, das die Menschen gebrauchen können, die alles verloren haben.

Auch wenn nach der Akutphase der ersten Wochen die Scharen der Helfer kleiner werden: Viele unterstützen die Betroffenen seit Monaten, kommen immer wieder in die Orte. Gerade in der Weihnachtszeit geht es ihnen darum, Hoffnung zu schenken: Sie kommen mit Geschenken, sie organisieren Lichterzüge mit unzähligen beleuchteten Traktoren und Lkw – mit denen Monate zuvor der Flutmüll aus den Straßen gefahren worden ist.

Viel Geld für den Wiederaufbau

Unbürokratisch und schnell werden eine Woche nach der Flut Soforthilfen bereitgestellt. Wie NRW-Heimatministerin Ina Scharrenbach (CDU) in der vergangenen Woche bekanntgegeben hat, sind 102,4 Millionen Euro an Privathaushalte ausgezahlt worden, 65 Millionen an Kommunen und 35,7 Millionen an Unternehmen. Für den Wiederaufbaufonds sind beim Land (Stand 20. Dezember) 10.610 Anträge von Privathaushalten und Unternehmen der Wohnungswirtschaft eingegangen, 6604 davon sind bearbeitet. Aus allen Förderbereichen des Fonds sind bislang 145,3 Millionen Euro im Auszahlungsprozess.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt

Noch immer sind Fragen offen, was den Verlauf der Katastrophennacht betrifft. Sowohl in Rheinland-Pfalz als auch in NRW sind von den Landtagen Untersuchungsausschüsse eingesetzt worden. Sie untersuchen mögliche Versäumnisse, Fehleinschätzungen und etwaiges Fehlverhalten der Landesregierungen, diverser Ministerien sowie ihrer nachgeordneten Behörden. Auch das Verhalten der Wasserverbände und Talsperrenbetreiber wird unter die Lupe genommen.

In Rheinland-Pfalz ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen Landrat Jürgen Pföhler (CDU) und ein weiteres Mitglied des Krisenstabs wegen fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Tötung. Im Kreis Euskirchen sind Anzeigen gegen Landrat Markus Ramers (SPD) und den Energieversorger e-regio als Betreiber der Steinbachtalsperre erstattet worden. „Die Prüfungen auf den Anfangsverdacht dauern weiter an, sind nicht abgeschlossen“, sagt Dr. Sebastian Buß, Pressesprecher der zuständigen Bonner Staatsanwaltschaft. Bisher sei kein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

In den betroffenen Regionen läuft der Wiederaufbau langsam an. Doch es gibt zahlreiche Hemmnisse: Die Schadensübernahme durch die Versicherungen ist vielfach noch nicht geklärt, die Auszahlung der Mittel aus dem Wiederaufbaufonds startet gerade erst. In vielen Häusern verrichten die Trocknungsgeräte noch ihren Dienst. Erst, wenn die Wände trocken sind, können die Handwerker anrücken. Doch an Handwerkern mangelt es genauso wie an Material. Die Folgen der Flut werden die Menschen noch Monate, wahrscheinlich Jahre beschäftigen.